Riesen-Jubel nach „Joy to the World“

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Welche kompositorische Bandbreite John Milford Rutter aus London abdeckt, konnte man beim Konzert „Joy to the World“ des Stuttgarter Oratorienchors in der bis auf den letzten Platz gefüllten Leonhardskirche erleben. Enrico Trummer, langjähriger Leiter des Stuttgarter Traditions-Ensembles, hatte für das Weihnachtskonzert 2023 ein sorgfältig ausgewähltes Programm zusammengestellt, das sich im Lauf des Dezember zum Publikumsmagneten entwickelte.

Suite for Strings

Als Auftakt wählte Trummer ein eher wenig bekanntes Werk. Die viersätzige „Suite for Strings“ für fünfstimmiges Streich-Orchester entpuppte sich rasch als ein meisterhaft gearbeitetes und höchst unterhaltsames Juwel der Literatur für Streicher-Ensemble. Im Alter von 26 Jahren hat Rutter vier bekannte Volkslieder aus Südwest-England, Schottland und Irland in ein postmodernes Klanggewand gehüllt, das am Vorbild von klassischen Streichquartetten orientiert ist. Trummer führte die exzellenten Streicher seines Stuttgarter Concertinos (Mitglieder vom Staatstheater und Stuttgarter Philharmoniker) zu einer klanglich hoch differenzierten Wiedergabe. Präzise, transparent und mit nicht nachlassender Intensität wurden motivisch-thematische Abschnitte durchdrungen, und die anspruchsvollen virtuosen und komplexen Passagen verblüfften durch die Perfektion ihrer Ausführung wie auch durch den Charme ihrer kompositorischen Gestaltung. Die rhythmisch fast schon jazzartigen Begleitstrukturen des 1. Satzes (A-Roving) wurden ebenso spielerisch-mühelos wie die Tempoübergänge an dramaturgisch-gliedernden Abschnitten gemeistert. Das hochvirtuose abschließende „Dashing away“ rief als herzerfrischende, von überragender Spiellaune und Spielkunst geprägte Interpretation, zum wiederholten Mal spontanen Applaus des Publikums hervor.

Festliche Atmosphäre…

Nach diesem glanzvollen Streicher-Auftakt vergrößerte sich das Orchester: 9 Bläser, 2 Percussionisten, 1 Harfenistin und 1 Organistin betraten nun die Bühne hinter dem Streich-Orchester und dahinter füllten sich die Chorpodeste mit den ca. 50 Damen und Herren des Stuttgarter Oratorienchors. Mit Joy to the World eröffnete der Chor eine Dreiergruppe von wohlklingenden und stimmungsvollen Weihnachts-Kompositionen, die in Rutters farbig instrumentierten Arrangements vorweihnachtliche Stimmung ins Kirchenschiff brachten. Gerade dieser Eröffnungs-Chor, dessen berühmte Melodie motivisch an Händels Messiah denken lässt, wurde im gleichsam „neobarocken“ Arrangement des Arrangeurs Rutter im angemessenen Tempo und schönen Wechseln der Dynamik mit leuchtenden Sopranstimmen und klangvollen Männerstimmen herzerwärmend und präzise dargeboten. Höchst erfreulich auch die hohen Barock-Trompeten, die mit ihrem festlich-silbrigen Glanz und makellos gespielten Skalen dem Werk das unverwechselbare Kolorit verliehen. Außergewöhnlich war die Besetzung der 1. Trompete: Marbod Hans, festes Mitglied der Bass-Stimmen im Stuttgarter Oratorienchor und im Hauptberuf Rechtsanwalt, hatte hier im hochkarätigen Stuttgarter Concertino ein kurzes Gastspiel gegeben, welches die professionellen Ansprüche des Orchesters ohne Abzug erfüllte.

Das Christmas Lullaby, dessen Musik und Text nun aber vom Komponisten Rutter stammten und seinem Lehrer Sir David Willcocks zum Geburtstag gewidmet war, stellte einen interessanten Kontrast zum festlich glänzenden Eröffnungs-Chor dar. Hier bestach der abwechselnd singende Frauen- und Männerchor mit warmer, fein-kultivierter Tongebung auch in sehr leisen Passagen. In den a-cappella-Passagen, die mit raffinierten harmonischen Zusammenklängen gewürzt waren, zeigte der Chor seine makellose Intonations-Fähigkeit, die ein nahtloses Verschmelzen mit dem später einsetzenden Orchesters sicher gewährleistete. Das bezaubernde Angels‘ Carol bildete den Schluss der drei weihnachtlichen Chorwerke. Die weit gespannte, unwiderstehliche Melodie des Werks hatte Rutter für einen Gesangswettbewerb komponiert und später zu einem weltberühmten Chorwerk mit Orchester ausgearbeitet. Auch hier überzeugte der Chor wieder mit flexibler, farbiger Gestaltung, die den Zauber dieser Komposition zur Entfaltung brachten. Das Publikum spendete spontanen, begeisterten Zwischenapplaus für diese beeindruckende Leistung des Stuttgarter Traditions-Ensembles.

Magnificat

Mit Rutters „Magnificat“ aus dem Jahr 1990 hatte sich Trummer eines der berühmtesten Chorwerke der jüngeren Musikgeschichte ausgesucht, das mit seinen abwechslungsreichen Nummern in jeder Hinsicht eine chorische Herausforderung darstellt. Rutter hat hier in farbigen Bildern stilübergreifend komponiert und eine weite Ausdruckspalette ausgerollt: Von südamerikanischen Musical-Rhythmen und Taktwechseln über mittelalterliche Gregorianik-Anklänge bis zu Broadway Filmmusik-Romanzen und Jazz-artigen Abschnitten zaubert Rutter eine eingängige Musik, die man als „zeitgemäße“ Postmoderne einordnen kann.

Temperamentvoller Beginn – anspruchsvoller Stilmix

Schon die Titelnummer Magnificat mit ihrem raschen Tempo und den charakteristischen Taktwechseln und einer obligaten, eigenständigen Orchesterbegleitung – auf höchstem Niveau agierte einmal mehr das „Stuttgarter Concertino“ – spornte den Chor gleich zu Beginn zu Höchstleistungen an. Viele Stimmteilungen, markante Ausdruckswechsel, dynamische Kontraste, a-cappella-Passagen, polyphone Strukturen oder anstrengende Höhenlagen entfesselten im Chor geradezu mitreißende Energien. Unter der umsichtigen Leitung des Dirigenten wurden die „Stolpersteine“ dieses umfangreichen Eröffnungssatzes mit rhythmischer Verve und präzisen Einsätzen gemeistert.

Sphärische Tongebung dominierte dann den „Einlagesatz“ Of a Rose. Solistische Passagen der Frauen- und Männerstimmen wurden mit schwebendem Ausdruck und mittelalterlich anmutenden Melodiebögen anmutig gestaltet und entführten die Zuschauer in eine weit entfernte Vergangenheit. Kraftvoll-strahlender Männerchor-Klang eröffnete den dritten Satz Quia fecit mihi magna. Das gleichsam mittelalterliche Klangkolorit des Hauptthemas, erscheint nach kurzer Überleitung von reizvollen, modalen Akkordverschiebungen („Star wars“-Sequenzen) noch einmal als zarte polyphone Struktur, die sich zum Fanfaren-Glanz des Anfangs steigert. Mit weicher Tongebung eröffneten die Altstimmen das „Et sanctum nomen eius“, das den Hörer in eine geradezu klösterliche Atmosphäre mit gregorianischen Anklängen entführte. Das Sanctus als Schluss des Satzes brachte zum ersten Mal die Stimme der Solistin Miriam Burkhardt zum Klingen: Engelsgleich und mit lyrischem Timbre war sie die Ideal-Besetzung dieser Stelle. Man fühlte sich zauberhaft in die Notre-Dame Epoche des 12. Jahrhunderts versetzt.

Ruhe und Kontemplation bestimmen das anschließende Et misericordia. Miriam Burkhardt bezauberte einmal mehr mit ihrem lyrisch warmen Sopran und perfekter Intonation. Mühelos spannte sie große Melodiebögen und interpretierte diese neoromantische, geradezu filmmusikartig-eingängige Musik mit Weite und Ruhe. Perfekt in der Balance dazu wiederum der Chor: Einmal mit der Solistin dialogisierend, dann wieder in raffinierten, jazzartig-geschärften Harmonien alleine mit dem Orchester agierend. Atmosphärisch dicht auch wieder der Orchesterklang, der sich ideal mit dem vokalen Teil der Musik verband.

Dann ein regelrechter „Schnitt“ im musikalischen Geschehen: Groovige Basslinien eröffnen das Fecit potentiam. Nach Einsätzen der einzelnen Chor-Register vom Bass bis zum Sopran entwickelt sich eine höchst spannende, jazzartige und äußerst anspruchsvolle musikalische Struktur. Mit aufgeladener Energie und hohem Tempo jagt die Musik dahin und Chor und Orchester haben raffinierte Taktwechsel, dissonante Zusammenklänge und viele Synkopen zu meistern. Die eingearbeitete Jazz-Fuge mit anspruchsvollen Einsätzen wurde vom Chor punktgenau und präzise getroffen.

Im sphärisch dahingleitenden Esurientes gelingt Rutter ein langsamer Satz von hoher Dichte. Zum durchgehenden Klangband von gebrochenen Harfen-Akkorden setzt die Solistin mit ihrer zauberhaft-entrückten Melodie ein. Der Chor übernimmt mit schwebendem Klang das Hauptmotiv des Satzes und entwickelt das musikalische Geschehen weiter. Im perfekten Zusammenklang interpretieren Orchester, Chor und Solistin die unendliche Weite diesen hinreißend schönen Satzes.

Das Finale Gloria patri ist eine Art Reprise von Nr. 3 und 1 des Werkes. Wieder eröffnete der kraftvolle Männerchor mit markanter, strahlender Tongebung den Satz. Die Frauenstimmen vergrößerten mit leuchtendem Klang den Männerchor, und auf dem hymnischen Höhepunkt gab es wieder einen musikalischen Schnitt: Über dissonantem Streicherklang und einem raffinierten Harfen-Akkord setzte die Solistin mit ihrem Sancta Maria in antikisierend-schwebendem Klangklima ein. Kaum war der ausgehaltene hohe Schlusston verklungen, makellos weich gesungen, setzte noch einmal das rhythmisch pulsierende Orchester wie zu Beginn des Werkes ein: Sicut erat in principio – wie es war am Anfang – wurde musikalisch sinnfällig umgesetzt. Wiederum mobilisierte der Chor seine ganze Klangpracht und entwickelte mit nicht nachlassender Intensität gemeinsam mit dem grandios aufspielenden Orchester einen glanzvollen Höhe- und Schlusspunkt.

Mit lang anhaltendem Jubel dankte das Publikum in der ausverkauften Leonhardskiche dem SOC für dieses außergewöhnliche Weihnachtskonzert.