Ein Requiem für die Lebenden

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Dass J. Brahms mit seinem Deutschen Requiem ein Werk für die Lebenden komponiert hatte, konnte man wieder am vergangenen Palmsonntag erleben. Bis zum Rand mit Lebenden gefüllt fast schon überfüllt – war die St. Georgskirche beim traditionellen Palmsonntagskonzert des STUTTGARTER ORATORIENCHORS.

Zum Auftakt gab es aber erst einmal das berühmte Doppelkonzert d-Moll BWV 1043 für 2 Violinen von J.S. Bach. Eine gute Möglichkeit für die Zuschauer, das exzellente Streichorchester des Abends zu genießen: Exaktes, rhythmisches Zusammenspiel, barocke Phrasierungen, lupenreine Intonation und geschmeidige Bogenführung waren Merkmale, die keinen Zweifel aufkommen ließen: Hier spielt ein hochprofessionelles Ensemble aus Stuttgarts Elite-Orchestern zum Stuttgarter Concertino kundig zusammengesetzt. Mit Karina Kuzumi und Ramin Trümpelmann waren zwei hochkarätige Solisten im Bach- Konzert angetreten. Mit welcher Leichtigkeit, Spielfreude und Perfektion da musiziert wurde war ein echter Hochgenuss! Enrico Trummer dirigierte mit engagierten Gesten punktgenau – ließ aber den Solisten immer genügend Raum zur freien Entfaltung. Kammermusik auf höchstem Niveau, die keinen Vergleich scheuen musste.

Unvorhersehbares Ereignis

Bevor es dann mit dem Hauptwerk des Abends weiterging, gab der musikalische Leiter aber eine Solisten-Änderung bekannt: Leider musste der angekündigte Bariton Dominic Große am gleichen Abend in der Stuttgarter Oper den dort erkrankten Johannes Kammler ersetzen. Trotzdem war es gelungen – wenige Stunden vor der ersten gemeinsamen Probe – noch den Solisten Thomas Wittig aus Leipzig für die Aufführung in der St. Georgskirche zu gewinnen.

Mittlerweile waren zum Streichorchester auch die Bläser-Solisten, die Harfenistin und der Paukist hinzugekommen. Der ca. 60-köpfige Chor hatte ebenfalls in einer neuen, „publikumsnäheren“ Aufstellung vor dem Altar seine Position eingenommen.

Bewegende, berührende Musik…,

Schon die ersten Klänge dieses Gipfelwerks romantischer Chorsinfonik sorgten für Gänsehaut im Publikum: Die weich und ausdrucksvoll gespielten Linien der tiefen Streicher leiteten den Chor-Beginn ein: Selig sind. Dynamisch fein an- und abschwellend setzte der Chor seinen ersten hoch-kultivierten a-cappella-Einsatz in den Raum, der sofort vom ebenso fein austarierten Orchesterklang beantwortet wurde. Auch in der berühmten und heiklen A-cappella-Passage gleich im Anschluss ließ der Chor seine beeindruckende Klang-und Singkultur in den akustisch so idealen „heiligen Hallen“ der St. Georgskirche aufblühen. Mit seiner reichen Phrasierungskunst beseelte der Chor dann die seufzenden Tränengesten in ..die mit Tränen säen.., zeigte Kraft und Volumen beim „Freude-Affekt“ des Werden mit Freuden und beendete zu den weichen Harfenklängen mit genau modifizierten Tempomodifikationen den Satzschluss Selig mit dem geteilten Chor und den hohen Bläserakkorden.

Die vorbildlich ausgearbeitete Text-Deklamation ließ die Worte der heiligen Schrift dabei besonders eindrücklich in den Mittelpunkt der Wahrnehmung rücken. Schon nach diesem 1. Satz breitete sich im Publikum eine andächtig gespannte Konzentration aus, die den ganzen Abend lang anhalten sollte.

…, intensiv und abwechslungsreich gestaltet

Hohe Chorkultur, makellose Intonation, Sicherheit in den vielen harmonisch und kontrapunktisch anspruchsvollen Passagen prägten auch den weiteren Verlauf des Abends: Trummer, der mit romantischer Diktion und nicht nachlassender Konzentration Chor und Orchester im besten Sinne über alle Klippen, Höhepunkte und dramatische Verdichtungen des Abends führte, zeigte auf beeindruckende Weise, dass der Stuttgarter Oratorienchor zurecht zu den führenden Konzertchören mit „nicht-professionellen“, aber höchst ambitionierten, Chormitgliedern gezählt werden darf. Die Ausdruckspallette des Chores vom düsteren Choral Denn alles Fleisch über die blühenden Kantilenen beim Wie lieblich sind…bis zur Dramatik des Dies-Irae-Szenarios bei Tod, wo ist Dein Stachel? und den gewaltigen, die Stimmen außerordentlich fordernden Schlussfugen wie etwa Der Gerechten Seelen oder Herr, Du bist würdig beeindruckte das Publikum nachhaltig.

In allen Registern des Chores herrscht eine erfreuliche hohe Qualität und Ausgewogenheit: Der Sopran – die Visitenkarte eines jeden Chores – glänzte in den anspruchsvollen Höhen mit mühelos gesungenen Spitzentönen und klangschönen Phrasierungen. Souverän und „klangsatt“ zeigte sich der Alt in den oft komplizierten kontrapunktischen Linien dieses Werkes und der samtig-weiche, dunkel-bassige Klang der tiefen Männerstimmen sorgte allezeit für ein sicheres Fundament über dem die hohen Tenöre mit schmelzig-weichen Spitzentönen beeindruckten.

Solisten brillieren

Die einzige Arie des Abends Ihr habt nun Traurigkeit ist immer eine spezielle Herausforderung für die Sopranistin. Nach langem Warten bis auf den späten Gesangs-Einsatz müssen auf Anhieb Höchstschwierigkeiten gemeistert werden. Ruhige, lang gezogene Kantilenen in sehr hohen Lagen erfordern einen lyrischen Sopran mit höchster Gesangskultur. Ohne Übertreibung darf man sagen, dass Lucy de Butts die hohen Erwartungen an diese berühmte Arie in jeder Hinsicht – und ohne jede Einschränkung – erfüllen konnte. Klangschön, mit runder, weicher Stimme und enorm gekonnt geführtem Atem zog diese junge Sängerin ihr Publikum in den Bann. In den eingebauten Chor-Passagen konnte der Chor wiederum mit angemessen verhaltener und inniger Tongebung überzeugen und die entrückte Stimmung bis zum denkwürdigen verklärten Schluss des Satzes spannungsvoll mitgestalten. Die äußerst sensibel und kultiviert gespielten Bläser- und Streicher-Soli gaben dem Satz noch seinen atmosphärisch dichten Hintergrund.

Der kurzfristig eingesprungene Bariton Thomas Wittig verlieh seinem Part mit wuchtig und dramatisch gesungenem Ausdruck die Sphäre der Todes- und Vernichtungsangst im 3. Satz Herr, lehre doch mich. Durch die dramatische Betonung seiner Gestaltung sorgte er so an manchen Stellen für opernhaft-dramatische Momente.

Der große und lang anhaltende Applaus in der restlos aus-verkauften St. Georgskirche – mit gebührendem Abstand nach dem letzten Akkord des 7. Satzes einsetzend – war der verdiente Lohn für eine über-


aus spannende und erfüllende Aufführung dieses legendären Chorwerks, welches der Stuttgarter Oratorienchor übrigens als erster Chor anno 1880 in die Landeshauptstadt gebracht hatte. Ganz sicher ist: In dieser Verfassung wird dem Chor nicht nur ein „ewiges Leben“, sondern auch eine nicht aussterbende Jugend beschieden sein, die in drei Jahren – 2022 – das stolze Alter von 175 Jahren erreichen wird…